Die Festung Grauer Ort ist an diesem Wochenende ein Anziehungspunkt für die Region. Dutzende Kunsthandwerker haben die mächtigen Mauern des Artillerie-Forts mit schönen und kreativen Dingen gefüllt und begeistern damit ihre Kunden. Unter ihnen auch die Flüchtlingshilfe Bützfleth, die in den letzten Wochen Dekoratives zum Weihnachtsfest gestaltet. Menschen aus der Ferne haben unter Anleitung in der Tischlerei Meyer aus groben Paletten feine Accesoires geschnitten. Eine Auswahl zeigen die Frauen von der Flüchtlingshilfe um Elke Hartlef und mittendrin Yousef Mohamed. Der hatte bei der Verlosung zugunsten des Freibades und des Fördervereins Schule/Kindergarten auch noch richtig Glück. Er gewann einen Staubsauger. Übrigens: Auch am Sonntag, 3. Dezember, ist geöffnet. (ief)
Sie beantworteten die TAGEBLATT-Fragen: die Dezernentinen Susanne Brahmst und Nicole Streitz sowie Landrat Michael Roesberg.
Tarek Ahmashadani (vorn) und Juan Khalaf lernen seit Oktober 2016 in einem Integrationskurs bei der Firma Quell Bildungskonzepte in Stade die deutsche Sprache und über das Leben in Deutschland. Foto: von Borstel
STADE. Wartelisten und weite Wege – Wie zwei geflüchtete Männer aus Syrien bei „Quell Bildungskonzepte“ Deutsch lernen.
Zwei Stunden hin, eine Stunde zurück. Um zu seinem Integrationskurs in Stade zu kommen, verbringt Juan Khalaf aus Burweg täglich drei Stunden im Zug, im Bus und auf dem Fahrrad. Doch das macht er gern, wie er selbst sagt. Denn er hat ein Ziel vor Augen. Und das kann er gar nicht schnell genug erreichen.
Er darf den Vertrag widerrufen, was heißt das?“, fragt Lehrer Torge Teggatz in die Runde. Ein Kursteilnehmer, um die 40, meldet sich. „Er darf kündigen“, antwortet er mit starker Stimme, und erntet Lob aus der Klasse. „Denken Sie dran, wenn Sie zum Beispiel einen Handyvertrag abschließen“, sagt Teggatz. Die Methode: In einem Sprachkurs wie hier sollen die Inhalte möglichst lebensnah vermittelt werden.
Juan Khalaf, 29 aus Syrien, kam, wie viele Landsleute, im Herbst 2015 nach Deutschland. Er wohnt mit Ehefrau und Sohn in Burweg in der Nähe der Cuxhavener Kreisgrenze. Wochentags fährt er mit dem Fahrrad nach Himmelpforten und steigt in den Zug, um dann mit dem Bus zu „Quell Bildungskonzepte“ im Gewerbegebiet in Stade-Ottenbeck zu kommen. Dort findet sein Integrationskurs statt. Doch das störe ihn nicht, wie er lächelnd sagt. Denn sein Wunsch sei es, endlich Arbeit zu finden. „Schneller ist besser“, sagt Juan.
Wenn Juan Deutsch spricht, klingt es ein bisschen, als wäre er Franzose. Wahrscheinlich, weil so viele arabischsprachige Menschen in Frankreich leben. Sicher ist aber: Er musste nach seiner Flucht mit dem lateinischen Alphabet erst ein komplett anderes Zeichensystem erlernen, und beherrscht die deutsche Sprache so gesehen schon erstaunlich gut – vor allem die Grammatik.
Akkusativ, Dativ, Genitiv: Die grammatischen Fälle, die selbst den meisten Muttersprachlern Kopfschmerzen bereiten, beherrscht er. Eines fehlt ihm: der Austausch mit Einheimischen. „Schreiben, hören und lesen sind kein Problem, aber sprechen kann ich nicht gut“, sagt der 29-Jährige. Die Begegnung im Alltag vermisse er – und das, obwohl er privat Theater und Fußball spielt.
„Die Kurse waren auf einen Schlag ausgebucht“, erinnert sich Sebastian Witte, Quell-Geschäftsführer. Vor allem Dozenten fehlten damals, unmittelbar nach den Flüchtlingsströmen. Bis heute ist die Lage angespannt, obwohl die Kapazitäten ausgebaut wurden. Bildungsträger wie Quell, ursprünglich als reine Fahrschule gestartet, ließen sich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zertifizieren.
Die Berechtigung für die Kurse erteilen entweder das Bundesamt oder die Landkreise. Sie umfassen insgesamt 600 Einheiten Sprachunterricht à 45 Minuten. Hinzu kommen 100 Stunden über das Leben in Deutschland und gesellschaftliche Normen. Mehr als vier Stunden täglich darf der Unterricht allerdings nicht dauern, so will es das BAMF.
Juans Kurs startete im Oktober mit dem Modul 3 nach einem Einstufungstest. Im Mai winkt ein Zertifikat über das Sprachniveau B1, das den Weg in eine Beschäftigung ebnen soll. Aber wie gut wird er dann Deutsch sprechen?
In dieser mittleren Stufe muss ein Lernender die Kernpunkte einer Argumentation verstehen und die Standardsprache in seinem näheren Umfeld verwenden können. Das Niveau B1 wird als Voraussetzung verstanden, um eine Ausbildung starten zu können. Und: Etliche Betriebe im Landkreis haben derzeit Schwierigkeiten, ihre Lehrstellen zu besetzen und sehen im Bereich der Zuwanderer noch Potenzial.
Bei Quell ist in der Vorwoche bereits der vierte parallele Integrationskurs gestartet. Dazu mussten mehrere Räume neu eingerichtet werden. „Aus unternehmerischer Sicht ist das Maximum erreicht“, so Witte, der die neuen Strukturen anders nutzen möchte, sobald der Zulauf abebbt. Dann gehe es erst richtig los mit der beruflichen Qualifizierung. „Meiner Meinung nach sind gemischte Kurse, auch mit Hartz-IV-Empfängern, die Zukunft“, sagt der Geschäftsführer, der davon ausgeht, dass das Pensum in den kommenden Jahren kaum zurückgehen wird. Sechs Arbeitsplätze sind bei Quell seit Beginn der Flüchtlingskrise allein im Bildungsbereich entstanden.
Und wie steht es um die Zuverlässigkeit der Flüchtlinge? „Unzuverlässigkeit gibt es, aber nicht mehr als in anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen“, sagt Witte. Auf die Zusammensetzung der Gruppen könne keine Rücksicht genommen werden, etwa bei den Ethnien. Zu Handgreiflichkeiten sei es aber nie gekommen. Witte: „Meiner Meinung nach ist eher die teils fehlende Alphabetisierung problematisch.“
Tarek Ahmashadani starrt konzentriert auf das Lernbuch auf seinem Tisch, um ihn herum leises Gemurmel. In der Lektion geht es um den Umtausch von Waren. Tarek notiert die Lösung und blättert weiter. Der 23-Jährige kommt ebenfalls aus Nordsyrien und ist seit fast anderthalb Jahren in Deutschland. Heute lebt er zusammen mit der Mutter und seinen Geschwistern im ehemaligen Kreiswehrersatzamt in Stade. Sobald sein Aufenthaltsstatus geklärt ist, hofft er, eine eigene Wohnung zu finden.
In seiner Heimat studierte er Wirtschaft, bis der Bürgerkrieg ausbrach. Damit er weiter studieren kann, muss er seine Sprachfähigkeiten ausbauen, auf C1 oder C2. Das heißt, er muss wissenschaftliche Texte nicht nur verstehen, sondern auch schreiben können. Der Anfang fiel schwer: „In der Unterkunft in der BBS gab es freiwillige Deutschkurse, dazu mussten mich die anderen aber überreden“, erinnert er sich.
Inzwischen hat er Gefallen daran gefunden und ein anderes Problem: Weiterführende Kurse werden nicht gefördert. Flüchtlinge müssen sie selbst finanzieren – vorausgesetzt sie werden überhaupt angeboten. Denn oft finden sie nur berufsbegleitend statt. „In dieser Situation befinden sich noch die wenigsten“, erklärt Witte. Ambitionierte Flüchtlinge wie Tarek und Juan, meist mit akademischer Biografie, fänden den Weg in die Berufswelt meist problemlos, oft aber mit Zwischenstopp in der Praxis. Witte: „Die meisten sind mit Familie gekommen und ein Studium kostet.“
Für den Großteil der Geflüchteten stellt sich deshalb eine andere Frage: Was kommt nach dem Integrationskurs? Ein möglicher Schritt sind PerF-Kurse (Perspektiven für Flüchtlinge), die gezielt berufliche Kompetenzen verbessern sollen. Für viele Flüchtlinge, so die Hoffnung, könnten sie der Einstieg in die Berufswelt sein.
Torge Teggatz klappt das Lehrbuch zu. Einige der Teilnehmer verlassen den Raum. „Die Gruppe ist auf einem Niveau und sehr motiviert“, sagt der Sprachlehrer. Eine halbe Stunde an Hausaufgaben hat er den Schülern mit auf den Weg gegeben. „Es hilft nicht, wenn sie nach Hause kommen und dann nur Arabisch sprechen“, so der Dozent. Zur Vertiefung und Verfestigung der Sprache seien die Aufgaben notwendig. „Es schadet aber auch nicht, mal ein deutsches Buch oder einen Film zu schauen“, sagt er.
In Deutschland werden Flüchtlinge dezentral in den Gemeinden untergebracht, um Milieus zu vermeiden. Integrationskurse finden aber oft nur in Zentren statt, weshalb Flüchtlinge in den Flächenlandkreisen teils weite Strecken mit dem öffentlichen Nahverkehr fahren müssen. Noch immer gibt es Wartelisten bei den Kursen. Die Förderung des Spracherwerbs endet beim Sprachniveau B1, das aber reicht für ein Studium nicht aus.
Ralf und Claudia Engels (links) und Richard und Lina Peters (rechts) sind Pflegeeltern von zwei Jungen aus Afghanistan: Mustafa und Mohammed, die wir auf Wunsch des amtlichen Vormunds nicht im Bild zeigen. Foto Richter
Erklären in ihrem Vortrag zum Thema Staatsbürgerkunde das Grundgesetz: Sprachmittlerin Shaida Habibi und Polizeioberkommissar Dirk Schwarz.
80 Flüchtlinge und ihre Betreuer sind zum Vortrag ins Dorfgemeinschaftshaus in Bützfleth gekommen.
BÜTZFLETH. Vor zwei Jahren ist Hossein Momen Bozroudi als Flüchtling aus dem Iran gekommen. Jetzt wurde der 25-jährige Fußballer zum ersten Mal Hallen-Kreismeister mit Gastgeber TuSV Bützfleth. Bozroudi hatte maßgeblich Anteil am Erfolg.
Die Horneburger gingen im Finale vor 80 Zuschauern in der Bützflether Sporthalle mit 1:0 und 2:1 in Führung. Jeweils konnte Hossein Momen Bozroudi, der in seiner Heimat in der nationalen ersten Liga gespielt hat, mit einem Treffer ausgleichen. So war es Konstantin Hirschfeld wenig später möglich, das Siegtor zum 3:2 zu erzielen. Damit bleibt der Pokal des Hallen-Champions im Kreis Stade in Bützfleth. Die Mannschaft von Trainer Yannick Kollega hatte bereits im Vorjahr gewonnen. Hoffnungen auf einen dauerhaften Aufenthalt des Pokals in ihrer Vitrine dürfen sich die Bützflether allerdings nicht machen. Die eindrucksvolle Trophäe geht auch nach mehrfachem Gewinn nicht in die Hände des Vereins über, sondern bleibt auf Wanderschaft.
In der Gruppenphase spielten sich die Gastgeber souverän auf den ersten Platz von vier Teams. Erstmals wurde die Hallen-Kreismeisterschaft mit einem reduzierten Starterfeld von acht Mannschaften ausgetragen (siehe Artikel links). Qualifiziert waren die besten sieben Kreisliga-Teams aus der Hinrunde plus der Vorjahressieger.
Im Halbfinale wurde es für die Bützflether allerdings einmal eng. Nach Ablauf der regulären Spielzeit von 15 Minuten stand es in der Begegnung zwischen dem TuSV und den VSV Hedendorf/Neukloster II 2:2 unentschieden, wobei der Ausgleich für Bützfleth erst in der Schlussminute fiel. Im entscheidenden Penaltyschießen setzte sich dann Bützfleth mit 4:2 durch. Auch das zweite Halbfinale zwischen Gruppensieger MTV Hammah und dem VfL Horneburg fand erst mit dem Penaltyschießen einen Sieger. Der Gruppenzweite Horneburg gewann mit 4:3 gegen den stark spielenden MTV Hammah.
Überhaupt durften sich die Zuschauer in der Bützflether Sporthalle über spannende und torreiche Spiele freuen. „Die Ausgeglichenheit der Liga auf dem Feld hat sich in den Hallenspielen widergespiegelt“, sagte Michael Koch, Vorsitzender des Kreisspielausschusses Stade. Die einzige negative Ausnahme in dieser Beziehung bildete Kreisliga-Tabellenführer TSV Apensen, der viele Leistungsträger zu Hause gelassen hatte und in der Gruppenphase als Letzter regelrecht unterging. Beeindruckender war der Einsatz auf der Tribüne, auf der zwar noch reichlich Platz für mehr Fußballanhänger gewesen wäre, doch die anwesenden Besucher schafften es zumindest akustisch, dem Sport eine angemessene Kulisse zu geben.
Das Spiel um Platz drei sollte ursprünglich im Penaltyschießen entschieden werden. Weil aber sowohl beim MTV Hammah als auch bei den VSV Hedendorf/Neukloster II Spieler Aussicht auf die Auszeichnung als bester Torschütze hatten und Treffer aus dem Penaltyschießen nicht gewertet wurden, ermittelten die Teams in der verkürzten Spielzeit von zehn Minuten den Sieger. Hammah gewann mit 3:1. Bester Torschütze des Turniers wurde Jerome Kröger (VSV II) mit fünf Treffern. Auch der Pokal für den besten Torhüter ging nach Hedendorf: Rene Becker zeichnete sich mit starken Paraden aus. Zum besten Spieler wurde Daniel Viedts (VfL Horneburg) gekürt.
LANDKREIS. Von den im März 2016 im Kreis Stade lebenden 3480 Flüchtlingen sind noch 2880 bei der Kreisverwaltung registriert. Doch wie gestaltet sich die Situation der Flüchtlinge jetzt? Was sagen die Flüchtlinge?
Sie kamen zu Fuß, mit dem Bus, dem Schiff oder dem Flieger – Hauptsache weg aus dem Land der Angst: Syrien, Afghanistan, Irak, Pakistan, Sudan. Aber sie kamen auch aus Ländern, die als sichere Herkunftsstaaten eingestuft sind, wie Serbien, Mazedonien, dem Kosovo oder Montenegro. Letztere haben in der Regel keine Chance auf Asyl und müssen zurück. So will das die Politik, in der Praxis ist das oft schwierig, 660 Personen leben derzeit mit einer Duldung noch im Landkreis (zum größten Teil mit negativ abgeschlossenen Asylverfahren).
Der große Rest der insgesamt 2880 Asylbewerber lebt dezentral verteilt im Landkreis – teilweise in Flüchtlingsheimen, in Containern oder angemieteten Wohnungen. Die Notaufnahmelager sind verschwunden, sie werden nicht mehr gebraucht, denn die Zahl der Zuzüge geht deutlich zurück. 1647 Flüchtlinge kamen im vergangenen Jahr neu in den Landkreis, in diesem Jahr sollen es noch rund 800 sein.
Doch während die Zahl der Ankommenden sinkt, werden die Probleme nicht kleiner – nur anders, denn jetzt geht es verstärkt um Integration, und die ist schwierig.
Mustafa Nasiri (20) aus Afghanistan: „In ganz Afghanistan gibt es keinen sicheren Ort“, sagt Mustafa Nasiri. Deshalb sei er 2015 auch gegangen. Die Taliban forderten die Unterstützung aller Familien ein. „Entweder, ich mache mit und helfe ihnen oder...“, sagt er und beendet den Satz mit einer Geste: Er führt die Hand an die Kehle. Wie Nasiri berichtet, gaben seine Eltern Schleusern 10 000 Euro, damit er nach Europa fliehen konnte. Erst nahmen sie ihn von Kabul nach Herat mit, dann zu Fuß über die Grenze nach Pakistan und weiter in den Iran. Zehn Tage dauerte der Marsch. Über die Türkei kam er nach Europa, die Balkanroute führte ihn bis Passau, wo er im Oktober 2015 erstmals deutschen Boden betrat. Von dort ging es mit dem Zug nach Stade ins Flüchtlingscamp. Schließlich ist Nasiri in Bützfleth gelandet, wo er sich heute mit einem Mitbewohner ein Zimmer teilt. An der VHS hat Mustafa Nasiri zuerst einen viermonatigen Deutschkurs absolviert. Nun versucht er, sich im Sprint-Projekt an den BBS in Stade möglichst schnell und intensiv mit der deutschen Sprache und dem Kultur- und Berufsleben vertraut zu machen. Sein Traumberuf wäre Automechaniker. Aber zunächst macht er sich Sorgen, ob er überhaupt so lange bleiben kann, denn mittlerweile wird wieder nach Afghanistan abgeschoben. Seine aktuelle Aufenthaltserlaubnis gilt für sechs Monate. Auf sein Interview beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), das über die Anerkennung des Flüchtlingsstatus entscheidet, wartet er noch.
"Die Cheferin" ist Bürgerin des Jahres
Elke Hartlef macht sich seit eineinhalb Jahren in der Bützflether Flüchtlingsarbeit verdient - Ehrung beim Neujahrsempfang
BÜTZFLETH. Mit großem Applaus und vielen anerkennenden Worten ist Elke Hartlef am Sonntagvormittag in der Bützflether St.-Nicolai-Kirche zur Bürgerin des Jahres 2017 gekürt worden. Elke Hartlef spielt seit über einem Jahr in der Flüchtlingsarbeit in Bützfleth eine entscheidende Rolle.
Für viele Asylbewerber ist Elke Hartlef schlicht „die Cheferin“. Warum das so ist, erzählte Pastorin Heike Kehlenbeck in ihrer Laudatio, die Ortsbürgermeister Sönke Hartlef nicht halten konnte. Schließlich handelt es sich bei der neuen Bützflether Bürgerin des Jahres um seine Ehefrau.
Der Spitzname entstand in der Anfangsphase des Engagements und hat damit zu tun, dass Sönke Hartlef in den Unterkünften stets mit „Hallo Chef“ begrüßt wurde. Die damals noch mauen Deutschkenntnisse der Flüchtlinge führten dann auch bei Elke Hartlef, die ihren Mann begleitete, zu der Anrede, die etwas schräg ist, aber viel über das gute Ansehen „der Cheferin“ preisgibt.
Ein Bützflether Bürger hatte Elke Hartlef für die Ehrung, die zum achten Mal in Bützfleth vergeben wird, vorgeschlagen. Seine Begründung lautete, dass sich die Bützfletherin in vorbildlicher Weise um die Betreuung der Flüchtlinge kümmert und sich für deren Integration einsetzt. Die umtriebige Frau zeige, wie weltoffen, tolerant, modern und barmherzig Menschen in Deutschland sein können, überzeugte der Bürger die Jury.
Pastorin Kehlenbeck hob besonders die Hartnäckigkeit und das diplomatische Geschick von Elke Hartlef hervor, die mittlerweile Praktikumsplätze besorgt, Deutschkurse vermittelt und Probleme bei den Behörden, den Banken, bei Telefonanbietern oder Ärzten aus dem Weg räumt. Oftmals ein zeitintensives Unterfangen, das zu ihrem 30-Stunden-Job bei der Dow dazukommt. Sogar an Silvester war Elke Hartlef im Einsatz. Da saß sie mit zwei Sportverletzten vier Stunden in der Notaufnahme in den Elbe Kliniken. Für dieses beispielhafte Verhalten überreichte Pastorin Kehlenbeck die Silbermedaille der Ortschaft Bützfleth mit der Seriennummer 8.
Der Rückblick auf das Jahr 2016, den Ortsbürgermeister Sönke Hartlef als Zeitreise gestaltete, zeigte das ganze Auf und Ab der Ereignisse in der Ortschaft auf. An Feiern und Feste erinnerte Hartlef, an Ausflüge und andere schöne Begebenheiten. Allerdings gab es auch Schockmomente in Bützfleth. Zum Beispiel im September, als ein brutaler Raubüberfall auf ein älteres Ehepaar für Fassungslosigkeit über so viel Brutalität sorgte.
An einen besonderen Taufgottesdienst erinnerte Pastorin Kehlenbeck. Da standen zehn Männer aus dem Iran am Taufbecken und bekannten sich zum christlichen Glauben. Sie alle haben Paten aus Bützfleth, die sie intensiv auf ihrem Weg in Deutschland betreuen.
Kehlenbeck dankte auch für die große Unterstützung beim Weihnachtsbild, das am vierten Advent in der St.-Nikolai-Kirche präsentiert wurde. Und sie erinnerte an das Projekt Friedhofskapelle, für das noch Spenden eingeworben werden.
In der Jobelmannschule im Sprintkurs bauen Ali Reza (19) (links) und Hadi (17) ein Kinderbett.
Syrien ist jetzt hier
Ich habe als Studentin einige Zeit in Syrien verbracht, damals, als es noch schön war und keinen Krieg gab. Heute liegen mir die Flüchtlinge in der Stadt Stade am Herzen. Es ist nicht nur die Sprache, die ich ihnen geben kann. Ich möchte auch etwas zurückgeben, dass ich einmal selbst erlebte: Offenheit, Toleranz und Gastfreundschaft.
Ich stehe auf einer Kreuzung, mitten in Damaskus, im Jahre 2003. Ich muss meinen Aufenthaltsstatus in Syrien regeln. Ich spreche außer einigen im Alltag unnützen Schulbuchsätzen kaum Arabisch. Ich bin allein, und weiß den Weg nicht.
Wie ich da so stehe, mit meiner Straßenkarte, bildet sich innerhalb kürzester Zeit eine Traube von ungefähr einem Dutzend Menschen mit freundlichen Gesichtern und lachenden Augen um mich herum: „Können wir dir helfen?“ Einer von ihnen spricht Englisch, Gott sei Dank, er versteht mich. Fedaa zeigt mir nicht nur den Weg- er begleitet mich auf das Amt und regelt alles Erforderliche. Als ich mit erfolgreich erteilter Aufenthaltsgenehmigung wieder mit Fedaa vor dem Gebäude stehe, bin ich grenzenlos erleichtert. Er fragt: „Möchtest du sehen, wo ich arbeite?“
So fing unsere Freundschaft an, damals, vor über 10 Jahren. Wo Fedaa, seine Frau und ihre beiden kleinen Töchter heute stecken, weiß ich nicht. Sie lebten damals im heute fast völlig zerstörten Viertel Yarmuk, entstanden aus einem Flüchtlingscamp für Palästinenser. Syrien hat selbst eine lange Geschichte der Aufnahme von Flüchtlingen: Griechen, Armenier, Libanesen, Iraker, Palästinenser.
Heute lebt A., die mir inzwischen zur Freundin geworden ist, mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Stade. Sie kommen aus eben diesem Viertel Yarmuk. Ebenso wie weitere Freunde von mir, darunter ein Teil meiner ehemaligen Damaszener Gastfamilie, leben A.‘s Verwandte immer noch unter schwierigsten Bedingungen in Syrien. Heizöl gibt es nicht. Der Strom kommt zwei Stunden am Tag. Und manchmal fallen die Bomben und Granaten auch auf ihr Viertel. Sie wollen fliehen, aber haben kein Geld. Dafür große Angst, vor allem um die Kinder.
Ich weiß. Eigene Erfahrungen kann man schwer anderen vermitteln. Und doch habe ich den Eindruck, ich muss meine ganz eigenen persönlichen Erfahrungen teilen. Die leise Hoffnung besteht, dass dadurch doch für den einen oder anderen nachvollziehbar wird, dass „die Flüchtlinge“ keine homogene Gruppe von Menschen ist, denen man per se alles Schlechte zuschreiben kann.
Als ich gerade mal zwei Tage bei meiner Gastfamilie in Damaskus wohnte, die ich vorher nicht gekannt hatte, fand die Hochzeit meines Gastbruders Shadi statt. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass ich mitkam! Auch, wenn ich anders war, nicht mit ihnen kommunizieren konnte. Diese Selbstverständlichkeit setzte sich allumfassend fort: zunächst hatte ich ja nur ein Zimmer gemietet. Die Gastfamilie bekam ich gratis dazu. Noch heute sagt meine Gastmama, die inzwischen in Kanada lebt: „Du bist meine Tochter!“ Mama wartete zum Beispiel mit dem Mittagessen auf mich, wenn ich von der Uni kam. Wenn sie den Eindruck hatten, dass ich gar zu traurig in mein Zimmer verschwunden war, und dort zu lange allein blieb, riefen sie nach mir: „Katja, willst du nicht mit uns Tee trinken?“ Sie linderten mein Heimweh, das ich hatte, obwohl ich freiwillig dort war. In Zukunft sollte ich Heimweh nach ihnen haben, nach Damaskus, nach Syrien. Das kaum mehr zu lindern ist, jetzt da alles zerstört ist. Wenn ich schon solches Heimweh habe… wie ergeht es dann erst ihnen, die ihre Heimat unfreiwillig verlassen mussten? Meinen Freunden, die noch in Syrien sind, kann ich nur bedingt helfen, oder auch gar nicht. Aber ich kann etwas für die Menschen tun, die nun hier in meiner Stadt landen. Sie sind nicht - wie ich damals- freiwillig in dieses Land gekommen.
Ich musste wirklich kreativ werden, um Möglichkeiten zu entdecken, meiner Gastfamilie etwas zurück zugeben, denn auch wenn ich mich auf den Kopf stellte: mehr Geld nahmen sie nicht von mir an. Manchmal kochte ich z.B. etwas, genauso wie die neuen Freunde in meinem Freundeskreis heute auch (nur mit dem Unterschied, dass sie wesentlich besser kochen als ich!). Und das, obwohl sie nicht bei mir wohnen und nicht das Rundumwohlfühlpaket bekommen, das ich damals in Damaskus hatte. Ebenso wie ich damals wollen auch meine neuen Freunde hier nicht einfach alles geschenkt kriegen. Denn das fühlt sich nicht gut an; es beeinträchtigt die eigene Würde. Es ist wichtig, auf Augenhöhe zu bleiben.
Wenn Sie mich fragen, was ich außer Arabisch in Syrien gelernt habe, dann sage ich: miteinander leben. Menschen erst einmal offen und interessiert begegnen, sie so bedingungslos annehmen, wie ich damals aufgenommen wurde. Nicht urteilen, bevor ich sie kenne. Bewähren oder beweisen kann man sich danach. Ich denke, das nennt man gute Gastfreundschaft und Nachbarschaftlichkeit.
Dies ist in meinen Augen umso verwunderlicher als Syrien zwar immer ein Land vielfältiger Religionen und Ethnien war, jedoch unter einem autoritären Regime und dessen Geheimdiensten stand. Dass sie sich trotzdem diese generelle Offenheit und Freundlichkeit bewahren konnten, und nicht einem pauschalen Misstrauen anderen Menschen gegenüber anheimfielen, grenzt für mich an ein Wunder.
Diese Haltung und Liebenswürdigkeit finde ich selbst jetzt bei den Menschen aus Syrien, wenn ich, zusammen mit vielen anderen ehrenamtlichen Helfern dem Landkreis beim Empfang der Flüchtlinge Hilfestellung leiste. „Ta’ibnaki“- Wir haben dich so beansprucht, du bist jetzt sicher müde! Das höre ich von Menschen, die über 2 Wochen unterwegs waren, teils auf maroden Booten, teils tagelang zu Fuß ohne Lebensmittel durch Wälder, teils mit Kindern. Und die nur noch das besitzen, was sie am Leibe tragen, Familienmitglieder auf unvorstellbare Weise verloren haben, unterwegs inhaftiert und geschlagen wurden. Das erste Mal bin ich in Tränen ausgebrochen, und habe gesagt: Ihr seid müde. Ich nicht.
Es ist für die meisten Flüchtlinge sehr traurig und sehr schwierig, hier bei uns zu sein. Sie wären auch lieber zu Hause, wo sie aber zwischen denen zerrieben werden, die dort um ihre Macht kämpfen, wofür auch immer. Einige Menschen, denen ich in letzter Zeit begegnen und kennenlernen durfte, bereichern mein Leben. Sie sorgen, auch wenn das merkwürdig klingt, dafür, dass ich mich noch mehr als vorher in Stade zu Hause fühle. Und dafür bin ich dankbar.
Gleichwohl bin ich mir bewusst, vor welch große Herausforderungen uns diese Situation stellt. Dies wird immer wieder ein neues Aushandeln von Möglichkeiten und Grenzen erfordern, was natürlich anstrengend ist. Ganz sicher ist, dass einfache Lösungen und Antworten nicht parat stehen, und selten der Komplexität menschlichen Lebens gerecht werden. Deshalb wünsche ich mir- trotz allem Gegenwind- immer noch, dass wir alle zusammen arbeiten, damit es eben NICHT schiefgeht, sondern eine positive Entwicklung möglich wird.